Der Körper regelt das - Krisenbewältigung für bequeme Seelen

Quelle: Dakota Corbin auf www.unsplash.com

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Die kommenden Zeilen sind eine Hommage an unser autonomes Nervensystem, dass sich bei leichtem bis traumatischem Stress, unaufhaltbar selbst reguliert. Wir müssen lediglich lernen zuzuhören, sodass sich neue Handlungsräume öffnen. Es entsteht die Möglichkeit, Krisen und Traumata neu zu verhandeln und eine wertschätzende Beziehung zum eigenen Körper zu gestalten. Dieser Blog ist für Betroffene und Interessierte gleichermaßen geeignet – ganz besonders für die Verbündeten, die unkomplizierte Anwendbarkeit einem strengen Self-Care Plan mit komplizierten Selbstoptimierungsmethoden vorziehen. Ich hoffe hiermit Impulse und Orientierung bieten zu können für Menschen, die traumatischen Stress erleben und/oder erlebt haben.

Kleiner Disclaimer: Die beschriebenen Methoden sind sehr gut zum weiteren erforschen und experimentieren geeignet. Sollten jedoch Traumata im eigenen System vorhanden sein oder ein Verdacht darauf bestehen, ist es wichtig sich professionelle Unterstützung zu suchen, um eine Retraumatisierung zu verhindern.

Körperliche Reaktion auf traumatischen Stress

Als Trauma werden Ereignisse beschrieben, die tiefe seelische Verletzungen hervorrufen. Sie sind gekennzeichnet durch ein Gefühl von Hilflosigkeit und Überforderung. Bei solchen bedrohlichen Ereignissen wird eine große Menge Energie bereitgestellt, um eine der drei bekannten Überlebensstrategien einzuleiten: Flucht, Kampf oder Erstarrung (Amrhein, 2015). Wenn Erstarrung die einzige mögliche Reaktion ist, bleibt ein großer Teil der Überlebensenergie an das Nervensystem gebunden, woraufhin der Organismus nicht in sein natürliches Gleichgewicht zurückkehren kann. Was genau ist mit Überlebensenergie in diesem Fall gemeint? Und wieso ist es schlimm, wenn sie sich in uns anstaut?

Quelle: Nadir Syzygy auf www.unsplash.com

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Bei jeder Art von Stress entsteht Energie im Körper. Normalerweise wird dieser Stress intuitiv abgebaut, durch Bewegung, weinen, schreien oder ähnliches – also wenn wir der Energie Raum geben und sie ausleben. Manchmal ist das nicht möglich. Vielleicht weil wir unseren Job behalten möchten oder weil eine Situation so bedrohlich ist, dass wir erstarren. Erstarren wir also, wie oben kurz angedeutet, so haben wir also weiterhin den Job und im besten Fall eine gefährliche Situation überlebt. Jedoch können wir durch diese Strategie nicht die Energie ausleben, die sich in einer solchen Situation in uns aufstaut und ein großer Teil dieser Energie verbleibt im Körper. Typischerweise sorgt die blockierte Energie für Symptome wie Unruhe, Angst, Übererregtheit und auch für scheinbar gegensätzliche Phänomene, wie Abgestumpftheit, innere Leere und geringen Antrieb.

Viele sehen den Menschen als Gehirn auf zwei Beinen. Doch spätestens bei den Folgen von enormem Stress wird klar, dass wir das wichtigste und magischste vergessen haben: Unseren Körper, mit all den Organen, die uns am Leben halten. Trauma ist nicht als Schmerz zu verstehen. Auch nicht als Krankheit. Es ist eine menschliche Erfahrung, dessen Wurzel in Überlebensinstinkten liegt. Ein Trauma ist eine Art stecken bleiben. Stecken bleiben in einem unangenehmen Zustand, verursacht durch blockierte Energie, die wir noch nicht lösen konnten. „Ein Trauma ist nicht etwas was uns widerfährt, sondern woran wir, wenn es keine mitfühlenden Zeugen gibt, innerlich festhalten“ (Levine, 2011). Glücklicherweise ist jedoch die Lösung für dieses Dilemma näher als gedacht: wir finden sie im eigenen Körper.

Somatic Experiencing

Um gebundene Überlebensenergie zu lösen, erweisen sich solche körperorientierte Ansätze als hilfreich, die nicht darauf aus sind, das Trauma immer wieder neu zu durchleben oder zu verbalisieren. Eine populäre Methode lautet Somatic Experiencing – zu Deutsch: körperliches Erfahren. Bei dem Verfahren nach Peter Levine sollen neue Erfahrungen mit dem Körper geschaffen werden, die ein Gefühl von Sicherheit erzeugen, um das Trauma zu integrieren und/oder chronischen Stress abzubauen (Levine, 2011). Doch wann ist der Stress „vorbei“? Woran merke ich, dass ich mit dem Trauma abgeschlossen, also es integriert habe? Hier gibt es sicherlich keine Patentantwort. Als zentraler Faktor gilt jedoch das körperliche Gefühl von Sicherheit und angenehmer Präsenz. Wenn ich mich sicher im Moment fühle und das traumatische Ereignis nicht nur geistig, sondern auch körperlich in der Vergangenheit ansiedeln kann, ist das ein Anzeichen dafür, dass ich das Trauma als Teil meiner Geschichte integriert habe. Wenn ich darüber hinaus mit Menschen wieder in Kontakt gehen kann, ohne abzudriften, wenn ich meinen Körper beim Sport spüre und Nächte ohne Alpträume überstehe, kann auf Höflichkeitsfragen durchaus wieder ernsthaft geantwortet werden: „Es geht mir gut.“ Wie genau kann das mit der Körperarbeit gelingen? Darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein.

Wie genau geht das?

Quelle: Dim 7 auf www.unsplash.com

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Die eingefrorene Energie im Nervensystem soll behutsam aufgespürt werden und mit Hilfe verschiedener Methoden langsam entladen werden, um eine Retraumatisierung und Überwältigung zu vermeiden (Levine, 2011). Es muss also eine Verständigungssprache gefunden werden, die den Körper erreicht. Hier ein paar Impulse: Zunächst soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass gerade Erstarrung, unangenehme Symptome und Gefühle der Hilflosigkeit verstärkt. Sich bewegen, widersetzen, sich aktiv in Sicherheit bringen – all das führt zu mehr Ermächtigung und einem Gefühl der Selbstwirksamkeit (Härle, 2015). Das Bewusstsein der eigenen Körperempfindungen und Handlungsimpulse ist ein gutes Gegenmittel für Roboter-ähnliche Erstarrungszustände. Die Voraussetzung für die körpereigene Expedition ist ein sicheres Umfeld. Wenn das Unmöglich scheint, ist professionelle Unterstützung sehr ratsam. Finde ich mich jedoch in einem sicheren Umfeld ein und kann meine Bewertungsmuster irgendwo in einem netten Wartebereich ablegen, können wir einige Beispielfragen für uns erforschen: Wie fühlt sich mein Bauch gerade an, wenn ich lese? Wie ist es, wenn ich mal lächle? Was spüre dann ich im Gesicht? Wie ist es bei Bewegung? Von wo ab spüre ich die Dehnung bei einer Yogaübung? Was passiert im Brustbereich, wenn ich nach langer Zeit eine*n Freund*in wiedersehe? Woher weiß ich, dass die Schwerkraft keine Illusion ist? Was hält mich am Boden?

Wer auf diese Fragen Antworten findet, wird bereichert durch körperliches Erleben. Wir erhalten auf diese Weise ein Beziehungsangebot unseres Körpers. Wir schenken ihm Zeit, Aufmerksamkeit und Bewegung und erhalten im Gegenzug mit etwas Glück einen Kompass, der uns sehr gesund an Ziele führt, von denen wir nicht einmal wussten, dass sie existieren.

Aus eigenem Anlass

Hoffentlich konnte ich einen kurzen Einblick in körperorientierte Ansätze zu Stress- und Traumabewältigung geben. An der Stelle möchte ich mit einem persönlichen Kommentar abschließen. Wenn dies dem Artikel mehr Überzeugungskraft verleiht, ist das schön, jedoch ist Hauptanliegen mein Bedürfnis, einen Teil meiner Geschichte zu teilen und zu zeigen, welche Rolle dabei Körperwahrnehmungen spielten.

Meine Strategie bei Stress, bis in den Anfang meiner 20er Jahre, war radikales Rationalisieren und Humor in unangebrachten Situationen. Als ich jedoch dann gefühlt meinen Verstand verlor, auf Grund von einem psychotischen Schub, war meine liebste Kompensationsstrategie erstmal dahin. Wer neben allem Chaos nur noch wirr oder gar nicht denkt, kann sich schlecht als intelligent wahrnehmen. Es blieb also wenig von meinem Ich übrig. Es war anbracht, eine Alternative zu finden, die mich zurück auf den Boden und in die Realität bringt. Es sollten scheinbar einfache Fragen sein (ähnlich denen, die ich oben vorgestellt habe), dessen Beantwortung mir neuen Mut gab. Nicht weil meine Antworten so schlau waren, sondern weil ich neue, schöne Erfahrungen in meinem Körper machen durfte. Nach Monaten seit Beginn der Krise hatte ich nach wenigen Körpertherapie-Sitzungen, das Gefühl, wieder Beine zu haben, die mir gehören und die mit mir gemeinsam fest den Boden berühren. Ich erinnere mich an sofortiges Eintreffen von Misstrauen, weil ich nicht glaubte, dass in dieser Einfachheit in Kürze so eine Veränderung stattfinden konnte. Heute habe ich zwar noch kein Poster von Peter Levine, jedoch sehe ich seinen Ansatz des Somatic Experiencing als sehr vielversprechend an. Ich habe damit einen verloren geglaubten Teil von mir selbst wiedergefunden. Einen Teil, der mir den Zugang zu weiteren Teilen ermöglichte. Daher mein Appell an dich, liebe*r Leser*in: Einen Versuch, sich mit dem Aufspüren von Körperinformationen näher zu beschäftigen, um uns und unsere Stressreaktionen näher zu erkunden, ist es sicherlich wert. Im Normallfall regelt der Körper das – wir müssen nur zuhören.


Quellen:

Härle, D. (2015). Körperorientierte Traumatherapie: Sanfte Heilung mit traumasensitivem Yoga. Paderborn: Junfermann Verlag.

Levine, P. A. (2011). Sprache ohne Worte: Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. München: Kösel.

Amrhein, C. (2015, 19. Oktober). Trauma: Definition, Symptome und Anzeichen. therapie.de. Abgerufen 06.09.2021, https://www.therapie.de/psyche/info/index/diagnose/trauma/definition-trauma/

Somatic Experiencing Deutschland e.V. (2021). Was ist Somatic Experiencing? Aabgerufen 06.09.2021, https://www.somatic-experiencing.de/was-ist-somatic-experiencing/

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