Buchvorstellung: “The Brain” von David Eagleman
Brainprov - Gehirnhack für flexibleres Leben
Wir müssen über den Schwamm sprechen. Damit meine ich keine, in einer Ananas unter dem Meer lebende, Comicfigur. Ich spreche auch nicht von dem Haushaltsgerät neben der Spüle in der Küche, sondern von unserem Gehirn. Es ist etwa 1,5 kg schwer, operiert mit der Energie einer 60 Watt Glühbirne und befindet sich im Kopf von jedem von uns. Darin ist es dunkel und einigermaßen sicher. Allerdings sehnt sich das Gehirn in dieser dunklen und einsamen Umgebung danach zu lernen, zu verbinden und sich zu wandeln. Das Gehirn operiert abgeschottet von der Außenwelt.
Die Erschaffung der Wirklichkeit
Zum Glück ist unser Gehirn eng mit unserem Körper verwoben. So eng, dass die Frage, wer eigentlich wen steuert, der Körper den Kopf oder der Kopf den Körper, nur mit beides beantwortet werden kann. Das Gehirn nutzt den Körper, um mit der Außenwelt zu interagieren, doch es wird auch durch die Außenwelt beeinflusst. Was die Außenwelt jedoch ist, kann das Gehirn nicht genau beantworten. Es schafft eine Realität und dabei werden Informationen sortiert und weniger wichtige Informationen herausgefiltert. Daraus folgt, dass jeder Mensch seine eigene Realität hat und die Welt auf seine eigene Weise wahrnimmt.
Das ist eigentlich allen klar und dennoch ist es allen unklar. Wir wissen, dass unsere Freunde, Partner und Kollegen unmöglich dasselbe erfahren wie wir, obwohl sie dieselbe Situation erleben. Trotzdem entstehen Missverständnisse und wir werden ungnädig mit unseren Nächsten, wenn ihre Realität zu weit von unserer Realität abweicht. Dabei laufen viele Prozesse der Realitätsbildung unterbewusst ab. Wir vergessen oft dankbar dafür zu sein, dass wir überhaupt eine komplexe Realität bilden können.
Waterman kann nicht aufwachen
In seinem Buch „The Brain – The story of you“ beschreibt David Eagleman die Begegnung mit Ian Waterman. Als Ian 19 Jahre alt war litt er unter einer schlimmen Grippe. Die Grippe kostete ihn wichtige Nervenverbindungen. Ians Gehirn wusste nicht mehr wo sich die Arme und Beine befinden und wie sich Berührung anfühlt. Es war so als ob seine Körperteile einfach in den Dauerschlaf verfallen sind. Dadurch konnte Ian keine Körperbewegungen mehr automatisch ausführen. Er gab sich nicht mit seinem Schicksal ab und lernte wieder laufen. Allerdings muss er dabei all seine geistige Energie aufwenden, um bewusst einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er schätzt die Bewegungen über die Augen ab, was ihn wahnsinnig viel Energie kostet. Macht er einen Fehler, oder lässt er sich ablenken, fällt er.
Allein diese Geschichte macht deutlich, wie viele Operationen von unserem Schwamm ausgeführt werden. Wir können eine Tasse heben, den Abstand zum Mund und das Gewicht korrekt abschätzen, die Tasse zum Mund führen, einen kleinen Schluck nehmen und sie wieder absetzen, während wir eine Unterhaltung führen. Wir bewegen uns also scheinbar mühelos durch unsere Wirklichkeit.
Der Kampf der Entscheidungsmächte
Meiner Meinung nach ist jeder für seine Realität verantwortlich. Die Entscheidungsfindung im Kopf ist bei den meisten Menschen intakt. Und Entscheidungsfindung heißt auch immer Kampf und der Verbrauch von Energie, gerade wenn wir neue Verhaltensweisen annehmen wollen. Sollte ich mehr Sport machen? Sollte ich anfangen zu meditieren? Wie ernähre ich mich? Das Gehirn sorgt dafür, dass sich Möglichkeiten eröffnen und diese werden gegeneinander abgewogen. Doch welche Möglichkeit gewinnt? In der Regel die, die am wenigsten Energie verbraucht, es sei denn sie wird von unseren Emotionen überschrieben.
Sagen wir mal, dass Sie ein Problem mit Schokolade haben. Immer wenn Sie Schokolade sehen, möchten Sie sie auch aufessen. Ihr Gehirn liebt Schokolade als schnellen Energiespender, der Geschmack ist großartig und wird mit einer Extradosis Dopamin belohnt. Davon wollen Sie natürlich mehr. Ähnlich ist es mit einem LIKE auf Facebook. Nach kurzer Zeit sind Sie also in einem Schokoladenstrudel gefangen und kommen nicht mehr raus. Wenn Sie sich jedoch vor dem Schokoladenkonsum vorstellen, wie der Zucker darin ihre Zähne zersetzt und diese Vorstellung noch mit der Erfahrung der letzten Wurzelbehandlung verknüpfen, wird das Essen von Schokolade plötzlich mit Schmerz verknüpft. Die Entscheidung nicht zu naschen bekommt dadurch Unterstützung und der Kampf geht eines Tages in die andere Richtung aus. Sobald die Entscheidung getroffen ist, findet unser Gehirn auch Gründe dafür sie zu unterstützen. Alles andere wäre Energieverschwendung und führte dazu, dass wir erschöpfen.
Brainprov
Fassen wir also zusammen. Das Gehirn schafft sich eine Realität, die nicht genau der Realität eines anderen Gehirns entspricht. Rückmeldungen unseres Körpers sind essentiell für unsere Entfaltung und Entscheidungen sind ein Kampf zwischen Gehirnregionen. Das alles möchte ich auf die Kunstform übertragen, die ich sehr liebe, Improvisationstheater.
Diese Kunstform ist für jeden geschaffen, da sie mit dem spielt, was das bewusste Gehirn sowieso schon den ganzen Tag tut. Wir schaffen eine Realität, nutzen die Rückmeldung unserer Umgebung und treffen klare Entscheidungen für die Regeln dieser neuen Welt. Im Umkehrschluss heißt das, dass das Leben improvisiert ist. Ich stimme fast zu. Improvisiertes Theater und das Leben unterscheiden sich abgesehen von der Form auch darin, wie wir unser Gehirn nutzen.
Angst vor dem Jetzt
Im Leben fällt es uns schwer aus Fehlern zu lernen und an einem langfristigen Ziel lange festzuhalten. Unser Gehirn liebt den Nutzen im Jetzt und will auch gerne im Jetzt zufrieden gestellt werden. Improvisation hingegen schleudert das Gehirn in ein anderes Jetzt mit anderen Regeln und anderen Konsequenzen. Dort gibt es erst einmal kein Gestern und kein Morgen. Auch der Körper wird mit geschleudert und unterstützt die neue Welt. Dadurch wird das Gehirn gezwungen sich von der alten Realität zu lösen und die Neue zu erforschen.
Das macht Angst. Aus dieser Angst versuchen wir dann oft möglichst viel aus der alten Wirklichkeit in die neue zu retten. Wir vermischen das Entdecken mit dem Abspulen von Glaubenssätzen, Stereotypen und Erfahrungen. Improvisation wird dann zur Introvisation. Wenn die Angst jedoch überwunden wird, dann wir das Entdecken zu einem Abenteuer. Wir starten mit einer Behauptung, was nichts anderes ist als eine ausgesprochene Entscheidung, die für alle gelten soll. Dann zoomen wir nach außen und entdecken eine neue Welt.
Was das Gehirn vom Improvisationstheater lernen kann
Welchen Nutzen hat das für Ihr Leben? Durch Improvisation lernen wir alte Geschichten loszulassen und neue zu akzeptieren. Wir hinterfragen dadurch öfter unsere Glaubenssätze und unsere Realität und werden gleichzeitig gnädiger bei Fehlern unserer Mitmenschen. Wir machen uns hier also die Formbarkeit des Gehirns zu nutze. Zusätzlich überwinden wir die Angst davor etwas nicht zu verstehen. Wir wandeln die Angst in Neugier um, gehen durch sie hindurch und erfahren, dass Veränderung zwar nicht einfach, aber möglich ist.
Ihr Dr. Ben Hartwig